Wilde Mischung

14Juni2022

Als Deutscher bzw Deutsche gibt es wohl kaum einen anderen Ort, an dem man sich so unwohl fühlen kann wie in der zentralen israelischen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem. Hier wird die Geschichte der Judenverfolgung und Vernichtung vor und während des Zweiten Weltkrieges aus israelischer Sicht in Wort, Bild und Ton dargestellt. Deutsche kommen hier nicht gut weg - warum sollten sie auch?

Unsere historisch zum Teil sehr gut vorgebildeten Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer hatten wohl die meisten der hier versammelten Original Zeitdokumente schon einmal im Film und in Geschichtsbüchern gesehen. Die geballten Informationen auf engem Raum in einem Gebäude, das wegen zu vieler Besucher zeitweise kaum Luft zum Atmen lässt, hat dann aber doch noch eine andere Dimension.

Unser deutschsprachiger Guide Mark tut drei Stunden lang sein Bestes, uns durch die Menschenmassen hindurchzuschleusen und dabei gleichzeitig per Sprechfunk sein Wissen weiterzugeben. Mit Erfolg, wie wir finden. Die Delegation gibt ihm am Ende ein einstimmiges Daumen-hoch. Gerne hätte der interessierte Besucher der Sammlung einige Stücke noch in Ruhe näher betrachtet, aber bei dem Geschiebe und den vielen "excuse me"s ist das nur bedingt möglich. So bleibt mal wieder nur der Vorsatz, der Gedenkstätte irgendwann einmal einen weiteren Besuch abzustatten. "L'Shana Haba'ah B'Yerushalayim" -- oder "Nächstes Jahr in Jerusalem".

Unsere kleine Reisegruppe hat die geballte Ladung aus schlimmen und noch schlimmeren Details des Holocaust erst einmal verkraftet, wie es bei der Rückfahrt in Majdis Volvo-Bus den Anschein hat. Erfahrungsgemäß wird der Besuch aber noch lange nachwirken.

Aber jetzt ist erst einmal Tapeten- und Stimmungswechsel angesagt. Was gestern in der Old Town an Aktivitäten aus Zeitgründen liegen geblieben ist, kann jetzt nachgeholt werden - auf eigene Faust. Das gesamte arabische Viertel der Old Town ist ein einziger Markt - Granatapfelsaft? Shawarma Gewürz? Datteln in Premium Qualität? Gibts alles hier. Schals, Gewänder, Stoffe, dazwischen ein Metzger mit Lammfleisch-Spießen, neben ihm gibt es frisches Baklava mit Pistazien.

Weihrauch? Rosekränze? Wir sind schon ins Christliche Viertel abgedriftet. Schöne handgeschnitzte Krippenfiguren (aus China) und Kruzifixe in allen Größen und Farben wechseln sich ab mit Falafel-Bratereien, wärend daneben ein "Danish Restaurant" eindeutig arabische Lafa-Rollen anpreist. Immerhin gibt es Tuborg Pils dazu. Die Besucherinnen und Besucher stolpern fast über die Auslagen der Händler, die ihnen immer "A good price" versprechen, auch wenn das erste Angebot meist 300%  über dem realistischen Wert der Ware liegt.

Die drei Lehrkörper samt Anhang zieht es dagegen Richtung Café. Das österreichische Hospiz war mal ein Geheimtipp bei Jerusalem-Besuchern. Von außen unscheinbar und neben einer großen Moschee gelegen, entfaltet es hinter den Mauern seinen unnachahmlichen alpenrepublikanischen Charme - es riecht nach Meinl Kaffee - Entschuldigung: es muss "Melange" heißen - nach Knödeln, Käsespätzle und vor allem nach Apfelstrudel. Der Moment, wenn dann im schattigen Dachgarten die Sahne über dem Strudel schmilzt und der Muezzin mit 110 Dezibeln zum Gebet ruft... unbezahlbar. Das hat sich wohl inzwischen ziemlich herumgesprochen, denn der Laden ist rappelvoll mit deutschsprachigen Gästen.  Soviel zum Thema Geheimtipp.

Auch die Schülerinnen und Schüler tauchen jetzt hier auf. Müssen sie auch, denn das Hospiz liegt auf der Via Dolorosa und ist der Treffpunkt, von dem aus die ganze Gruppe den Kreuzweg beten wird. Am Original-Schauplatz, sozusagen. Der Kreuzweg hat bekanntlich (bzw. eher unbekanntlich) 14 Stationen. Kollege Nölke bewegt sich als evangelischer Geistlicher auf ungewohntem religiösem Pflaster, denn für ihn ist es das erste Mal, dass er einen Kreuzweg betet.

Schon bei den ersten Stationen merken wir rasch, dass unsere Bibelzitate und Meditationen gegen knatternde Mini-Laster, stimmstarke Händler und den parallel betenden Muezzin einen schweren Stand haben. Ab Station 4 hören wir den Lärm aber nicht mehr so stark und halten tapfer durch. Vermutlich musste Jesus vor gut 2000 Jahren sein Kreuz bei ähnlichen Temperaturen und mitten durch ein vergleichbares Gewusel tragen. Das ganze Setting ist also gerade sehr realistisch. Noch realistischer ginge es,wenn man sich bei einem der Händler am Weg mit einer Fake-Dornenkrone und einem mannshohen Kreuz ausstattete. Die Umsetzung eines entsprechenden Vorschlags wird aber gerade noch vereitelt.

Bekanntlich (oder unbekanntlich) endet der Kreuzweg in der Grabeskirche - so auch bei uns. Die Schlange vor der kleinen Kirche-in-der-Kirche mit Jesu Grab ist nicht sehr lang, daher schaffen es die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer hinein. "Ein Ort mit einer unglaublichen Stimmung" - "Ein Ort wie kein anderer," versucht eine unserer Teilnehmerinnen das gerade Erlebte zu beschreiben und wischt sich eine Träne der Ergriffenheit aus dem Auge.

Nach kleiner Pause wechselt die Gruppe zum letzten Mal für heute die Location. Es geht jetzt unter das heutige Jerusalem. Schon krabbeln alle Beteiligten durch einen Gang in den Katakomben, der vor 1200 Jahren noch ein Teil des arabischen Markts war. Spooky.

Mächtige Steinquader bilden den unteren Teil der Klagemauer - und niemand weiß genau, wie sie dorthin gekommen sind. So ein 16 Meter langes Klötzchen wiegt ähnlich viel wie zwei Passagierflugzeuge.



Der Tag endet mit dm Rückweg ins Hospiz. Klar doch. Aber erst mal was essen.

 

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